Die Weidenfrau

„Im Herbst gab es für uns Kinder“, erzählte meine Grossmutter ein andermal, „ immer viel zu tun. Wir sammelten die Beeren des Holunders, die Nüsse der Haselstauden, die Eicheln und die Buchennüsschen. Oft half auch unsere alte Grossmutter dabei. Sie sammelte aber von allen Früchten des Waldes nur je ein kleines Körbchen voll. Dies stellte sie jeweils mit grossen leeren Körben auf den alten Holztisch vor unserem Haus. Ich glaubte lange, dass sie dann weiter sammelte, wenn wir Kinder schon im Bett lagen, denn am Morgen waren die Körbe immer randvoll. Eines Abends konnte ich lange nicht einschlafen, stand deshalb auf und ging in die Küche hinunter. Da sah ich die Grossmutter, welche gerade aus dem Milchgaden kam und eine kleine Holzschale mit Nidle trug. Obwohl nur im Nachthemd, folgte ich ihr. Sie ging hinaus hinters Haus und stellte die Schale in die hohle Weide beim Teich. „Weidenfrau, ich danke dir für deine Hilfe und deinen Schutz“, sagte sie halblaut. Da trat aus der hohlen Weide eine wunderschöne Frau in weissem Kleid und mit langem blonden Haar, trank die Schale leer, nickte meiner Grossmutter freundlich zu, ging zum Tisch und nahm die leeren Körbe. Ich schlich mich verwirrt zurück in mein Bett. Nach einer Weile kam meine Grossmutter leise in die Kammer, strich mir übers Haar und sagte:“ Vergiss nicht, was du gesehen hast. Und nun schlafe“. Am Morgen waren die Körbe randvoll auf dem Tisch und auf jedem lag zuoberst ein kleiner Weidenzweig.

Die Weidenfrau 2012 cjl