Die Regenfrau

Grossmutter wusste über die alte Weide aber noch viel mehr zu erzählen:“Es war vor vielen, vielen Jahren und ich selber noch ein kleines Ding mit Zöpfen bis über die Schultern. In jenem Sommer herrschte eine grosse Trockenheit. Das Gras wurde rot, der Hafer auf unserem Acker begann bereits gelb zu werden, obwohl er mir kaum übers Knie reichte. Eines Abends erzählte uns meine eigene Grossmutter die Geschichte der Regentrude, welche in einem ähnlich trockenen Sommer Regen geschaffen hatte. Ich dachte abends im Bett noch lange über die Geschichte nach. Stand nicht am Weier hinter unserem Haus eine uralte Weide? Ich beschloss, hinzugehen und die Regentrude zu fragen, ob sie uns nicht helfen könne. Die Weide hatte unten im Stamm ein grosses Loch und war innen hohl. Als ich hineinschlüpfte, sah ich, dass die alten, knorrigen Wurzeln eine Treppe bildeten, welche steil abwärts führte. Unten angekommen, sah ich eine unbekannte Landschaft. Aber ach, auch hier war es staubtrocken, kaum ein Grashalm wuchs aus der verbrannten Erde und es war drückend heiss. Ich ging einen steinigen Weg entlang. Nach einer Weile sah ich am Wegrand eine grosse, schöne Frau liegen. Ich hielt sie zuerst für gestorben. Als ich ihr aber durch das lange, blonde Haar strich, schlug sie die Augen auf. “Endlich kommt ein Menschenkind mich wecken“, sprach die Frau, „es ist höchste Zeit“. Am nächsten Morgen erwachte ich vom Geräusch der Regentropfen am Fenster. Meine Grossmutter strich mir beim Morgenessen dankbar übers Haar und sagte:“ Da scheint jemand die Regentrude geweckt zu haben“.

Die Regenfrau 2012 cjl